Wer hilft meiner Tochter aus ihrem Schlamassel?

n.n. , 01.03.2023

„Ich schreibe für meine Tochter, 17 Jahre, im 3. Ausbildungsjahr zur Pferdewirtin, Service und Haltung, also dieses Jahr die Abschlussprüfung.

Meine Tochter hat so viele Probleme im Betrieb, dass ich gar nicht weiß wo ich anfangen soll. Ja ich weiß, im 3 Ausbildungsjahr ist es für vieles zu spät, aber meine Tochter wollte nicht, dass ich mich einmische, sie dachte, sie schafft es alleine. Aber mittlerweile spitzt sich alles so dermaßen zu, dass ich nicht länger zuschaue.

Ich denke als erstes wird sie Mitglied bei der IG Bau.

Aber nun zu ihren Problemen:

Außer Misten, Füttern und Pferde auf die Koppeln bringen lernt sie im Betrieb nichts (ist ja wohl nichts neues). Der Chef weigert sich ihr Reitstunden zu geben, er habe keine Zeit, und einen Reitlehrer bezahlt er nicht. (…)

Es gibt keine Arbeitskleidung, keine Lohnabrechnung, Berichtsheft wird zu Hause geschrieben. Die Dienstpläne sind eine Katastrophe, von Überstunden reden wir gar nicht mehr. Der tägliche Teildienst strapaziert zudem unsere Nerven, wir wohnen ländlich und müssen unsere Tochter immer mit dem Auto fahren..

Zur Erklärung, warum meine Tochter so lange alles geschluckt hat. Sie liebt Pferde, hat selber eines und seit sie im Kindergarten ist, verbrachte sie sämtliche Freizeit am Stall. Schon vor der Ausbildung war sie Einstellerin am jetzigen Ausbildungsbetrieb und hatte ein sehr gutes Verhältnis zum Chef. Sie genoss immer sein vollstes Vertrauen. Das hat sich geändert, seit sie ihre Stunden aufschreibt (seit Juli 2022) und ihrem Chef darauf hingewiesen hat, dass sie fast täglich unentgeltliche Überstunden macht. Wie gesagt, es hat lange gedauert, aber mittlerweile ist es sogar meiner Tochter zu viel geworden. Aber auch bei der Berechnung der Überstunden scheiden sich die Geister, der Chef rechnet das so, dass aus den Überstunden Minusstunden werden.

Sämtliche Gespräche mit meiner Tochter finden unangemeldet statt – natürlich immer ohne einen Erziehungsberechtigten.

Mittlerweile wird sie gemobbt, ihr werden Aufgabenbereiche entzogen, sie wird als unzuverlässig beschimpft – vor Mitarbeitern und Einstellern usw. Ich könnte die Liste ewig fortführen.

Es ist an der Tagesordnung, dass sie weinend nach Hause kommt.

Kurzum, wir benötigen dringend Hilfe. Ich rede seit einer gefühlten Ewigkeit auf meine Tochter ein, aber da sie sich wie schon gesagt, immer sehr gut mit ihrem Chef verstanden hat, wollte sie das alleine klären. Aber mittlerweile hat sie eingesehen, dass sie ohne kompetente Hilfe nicht weiter kommt.

Wir bräuchten dringend ein Beratungsgespräch bzgl Dienstplan und Berechnung der Überstunden, überhaupt alles rechtliche, auch Ausbildungsinhalte, Arbeitskleidung usw. Wenn ich die Gesetze und Paragrafen kenne, rede ich auch gerne mit dem Chef. Aber da brauche ich was schwarz auf weiß, denn wenn ich ihm sage, dass das nun mal Vorschrift ist, interessiert es ihn leider nicht.

Ich freue mich auf Ihre Antwort und lese mich bis dahin durch Ihre wirklich sehr umfangreiche Internetpräsenz. Vielleicht finde ich ja da schon die Antwort auf einige unserer Anliegen.

Ein großes Dankeschön, dass Sie sich den Azubis so annehmen, ich höre von meiner Tochter immer wieder, dass sie es „noch gut hat“, ihre Klassenkameradinnen arbeiten teilweise sogar vor und nach der Schule und haben manhcmal wochenlang nicht frei.

Übrigens, wir sind aus (…), sie geht in die Berufsschule in (…)

Vielen Dank für das Lesen meiner langen email, auch im Namen meiner Tochter : Wäre sie gerade nicht so angeschlagen, physisch und psychisch, hätte sie Ihnen sicher selber geschrieben“

n.n., Name und Adresse dem Admin bekannt

Dietbert Arnold, 02.03.2023

Liebe n.n., ich habe mal Deinen Namen hier weggelassen,

Was Du da schreibst ist ganz fürchterlich und doch so typisch. Mein ganzes Berufsleben habe ich erleben müssen, dass die strahlenden Augen zum Ausbildungsbeginn spätestens nach 1 oder zwei jähren immer trauriger wurden, immer dann wenn die Azubis merken, dass sie eigentlich nur ausgenutzt und gleichzeitig nicht ausgebildet werden. Das ist leider Realität in diesem Beruf. Dabei haben Studien immer wieder herausgefunden, dass die Auszubildenden nicht etwa unter der maßlosen Arbeitsbelastung und der geringen Entlohnung leiden, sondern unter der mangelnden Wertschätzung und der zusätzlich verweigerten Ausbildung. Deine Tochter hat genau das, wie viele andere Azubis in diesem Bereich, erfahren und es ist ihr bewusst geworden, dass sie einfach nur ausgenutzt wird.

Ich schreibe Dir das, damit Ihr beiden seht, dass nicht Ihr versagt habt, der Grund für das Dilemma seid, sondern die Betriebe, die sich nur mit der Ausbeutung von Azubis, also Billiglohnempänger*innen, über Wasser halten.

Am Anfang der Ausbildung ist alles gut, aber dann, im zweiten und dritten Ausbildungsjahr ändert es sich nicht selten.

Dein Beitrag ist so typisch, dass alle derzeitigen Azubis die Chance haben, daraus zu lernen. Auch wir Eltern müssen daraus lernen! Auszubildende im Beruf Pferdewirt gehören einfach in ihre Gewerkschaft. Eine Mitgliedschaft, die bereits vor dem Unterschreiben des Ausbildungsvertrages für alle zu einer Selbstverständigkeit gehören sollte. Nur als Mitglied haben Azubis die Möglichkeit, sich an ihre Gewerkschaft, für Pferdewirte die IG Bauen, Agrar, Umwelt, zu wenden und den Schutz einer großen , bedeutenden Organisation zu erhalten. Das beginnt durch Beratung, durch Rechtsschutz und im Notfall auch durch Klagen vor einem Gericht. Ohne eine starke Gewerkschaft ist es im Beruf Pferdewirt beinahe aussichtslos, sich gegen Ausbeuterei zu wehren. Und diese tollen Leistungen der Gewerkschaft gibt es nur, wenn das Mitglied eine Mindestmitgliedschaft vorzuweisen hat. Und das ist auch richtig so, denn es kann nicht angehen, dass nur in Notfällen in die Gewerkschaft eingetreten wird und dann locker der sehr teure Service in Anspruch genommen wird.

Ihr müsst schon in der Gewerkschaft sein, bevor die Probleme kommen

Für alle, die jetzt mitlesen, sei erklärt, dass Auszubildende für nur wenige Euro im Monat den vollen Schutz der Gewerkschaft besitzen und es natürlich wichtig ist, dass alle die zufriedenen Mitglieder, die ihren Beitrag „umsonst“ zahlen, ihren Beitrag solidarisch für die Problemfälle zahlen. Das, genau das, diese Solidarität muss unseren Auszubildenden erklärt werden, von uns Eltern und natürlich gleich am Anfang auch von der Berufsschule. Wer nach dem Lesen dieser Zeilen nicht in die IG Bauen, Agrar, Umwelt eintritt, dem ist aus meiner Sicht nicht mehr zu helfen.

Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen und ich möchte Euch nicht im Regen stehen lassen. Ich denke, es gibt nur zwei Wege, die in diesem Falle gleichzeitig gegangen werden können und müssen:

  • Sofort, DU und Deine Tochter, die Zuständige Stelle informieren und bei einem persönlichen Gespräch die Situation schildern. Und Wert darauf legen, die wesentlichen Versäumnisse, wie Fehlen der Abrechnung, keine Ausbildung nach Ausbildungsplan, massive, unbezahlte Überstunden, usw. auflisten, auch nach Möglichkeit dokumentieren und vom Ausbildungsberater*in sofortiges Handeln anmahnen. Die Ausbikldungsberater der Zuständigen Stellen haben den gesetzlichen Auftrag, die Ausbildung zu überwachen! Die müssen tätig werden!
  • Deine Tochter wird sofort Mitglied der IG Bauen, Agrar, Umwelt und Ihr beiden bittet darum, das die Gewerkschaft eine Ausnahme macht und dann doch noch eine rechtliche Beratung begonnen werden kann. Die Adressen der Büros findest Du unter www.igbau.de . Es muss Euch aber klar sein, dass, wenn alles vorbei ist, Deine Tochter nicht wieder austritt, weil dann anderen Problemfällen die Chance genommen wird, sich auch helfen zu lassen. Die Alternative, einen Rechtsanwalt einzuschalten ist oft mit sehr hohen Kosten verbunden, das ist kaum unter vierstelligen Rechnungen zu bekommen. Eine Gewerkschaft druckt kein Geld und qualifizierte Mitarbeiter und Büros kosten richtig Geld. Nur wenn viele Mitglieder geringe Beiträge zahlen, ist dieser Rechtsschutz überhaupt zu finanzieren.

Das sind meine Ratschläge für Euch. Ihr habt sicher Verständnis, dass ich hier aus der Ferne nicht direkt eingreifen kann. Dafür sind die Zuständige Stelle und die Gewerkschaft zuständig und auch in diesem Falle hilfreicher, als ich das sein kann.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Deine Tochter und Du uns hier einmal eine Rückmeldung geben können, wie es für Euch weitergegangen ist.

Falls es am Kontakt zur Gewerkschaft haken sollte, dann meldet Euch natürlich bei mir wieder. Kommt eigentlich nicht vor, aber eben zur Sicherheit dieses Angebot.

Ihr braucht Mut und Durchhaltevermögen, dafür drücke ich Euch die Daumen. Und alle die Mitlesen, sollten Wissen, dass in den Berufen, in denen viel mehr Arbeitnehmer Mitglied in ihrer Gewerkschaft sind, deutlich mehr bezahlt wird und derartige Ausbeutung nur sehr selten vorkommt.

Je mehr Mitarbeiter und Azubis in ihrer Gewerkschaft sind, desto besser die Arbeitsbedingungen. Warum sind die bei den Pferdewirten*innen so schlecht?

Dietbert Arnold, 17.03.2023

Liebe n.n.,

ich habe Deine Mail nicht komplett hier kopiert, damit Deiner Tochter keine Nachteile entstehen. Einzig die Schilderung über die Situation bei den Mitschülern*innen habe ich exakt zitiert.

Schön, dass die Gewerkschaft Bauen, Agrar. Umwelt sich so schnell bereit erklärt hat, Deiner Tochter zur Seite zu stehen. Da ist Deine Tochter in guten Händen.

Ganz bezeichnend ist die Situation, so wie Deine Tochter es wahrnimmt: „(Meine Tochter) hat mittlerweile mit ihren Mitschülerinnen gesprochen und es ist erschreckend. Fast allen geht es wie meiner Tochter, nur traut sich keiner was zu sagen. Es überwiegt die Angst den Ausbildungsplatz zu verlieren, bis hin zu Aussagen, dass der Beruf Pferdewirt dann ausstirbt, da es dann keine Betriebe mehr gibt die ausbilden dürfen.

Ist das nicht traurig ?

So leiden alle still vor sich hin. Für (meine Tochter) ist es auch nicht einfach diesen Weg nun zu gehen, besonders da sie ja vor der Ausbildung schon fast 6 Jahre am Stall war und immer ein sehr freundschaftliches Verhältnis zum Chef hatte, der Stall war ihre zweite Heimat.

Ich bin so froh und dankbar, dass wir Dich dank Selinas ehemaligem Lehrer gefunden haben und wir nun Hilfe erhalten.“

Du hast mich gefragt, ob die Reitweise in der Ausbildung mit der Fachrichtung Haltung&Service vorgeschrieben ist. In der Verordnung wird dazu nichts gesagt, dass heisst aber nicht, dass diese Kompetenzen, wie Pferde bewegen und Kondition bei den Tieren erhalten, sowie Ausritte durchführen, nicht nach guter fachlicher Praxis, gleich in welcher Reitweise, gelehrt und geübt werden müssen innerhalb der Ausbildung. Zuständig dafür ist der Ausbilder*in.

Bewegen von Pferden im Reiten oder Fahren, Arbeiten an der Longe

      • Pferde an der Longe arbeiten
      • Pferde bewegen und beschäftigen
      • Kondition ausgebildeter Pferde erhalten
      • Ausritte oder Ausfahrten organisieren und durchführen
      • Pferde verladen und transportieren

      Damit es bei der Prüfung keine Probleme geben kann und natürlich Deine Tochter weiß, welche Auslegung in der Prüfung vorgenommen wird, sollte Deine Tochter die Zuständige Stelle, möglichst schriftlich, fragen, wie und nach welchem System die Prüfung im Teilbereich Bewegen von Pferden im Reiten oder Fahren, Arbeiten an der Longe erwartet wird. Nur nach der Klassischen Reitweise, oder auch mit Islandpferden oder Westerpferden. Die Zuständige Stelle legt die Auslegung der Verordnung fest und muss Euch dazu Auskunft geben. Nach dieser Aussage der Zuständigen Stelle kann dann dem Ausbilder*in gesagt werden, was zur Prüfungsvorbereitung von ihm verlangt wird.

      Ich jedenfalls drücke Euch die Daumen und ich bewundere den Mut, sich gegen die miesen Ausbildungsbedingungen im Pferdebereich aufzulehnen. Wenn das mehr Azubis trauen würden, dann könnte ich von einer Traumausbildung in einem Traumberuf sprechen.

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